von Pfr. Uwe Seidner / Wolkendorf
Am Mittwoch, dem 12. Januar, stellte ich fest, als ich einen Blick in den Pfarrkalender 2011 hineinwarf, dass an diesem Tag, vor genau 140 Jahren, die erste evangelische Kirche in Rom eingeweiht wurde. Unter den Augen des Papstes, in nächster Nähe zum Vatikan eine evangelische Kirche? Das klingt doch etwas ungewöhnlich. Man höre und staune, aber so ist es!
Vom 10. – 13. November 2010 fand in Rom die Vollversammlung des Kommunikations-ausschusses Lutherischer Minderheitskirchen in Europa (KALME) statt. Zusammen mit Gerhild Rudolf, Redakteurin der Kirchlichen Blätter, durfte ich mich zu den Delegierten zählen. Vor mehr als 30 Jahren wurde KALME im Rahmen des Lutherischen Weltbundes ins Leben gerufen. KALME sollte zu einem Bindeglied werden zwischen den kleinen Minderheitskirchen hinter dem Eisernen Vorhang im Osten Europas. Es war angedacht, regelmäßig mit Verantwortlichen der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit zusammen zu kommen, damit ein gemeinsamer Weg begangen werden kann, damit man nicht auseinander driftet. Heute ist KALME ein Sprachrohr der Minderheitskirchen, gleichzeitig stützt und fördert KALME die Öffentlichkeitsarbeit in den kleinen oder klein gewordenen Kirchen, indem Fortbildungen und Seminare angeboten werden. So wird KALME auch zu einer Plattform, wo speziell die Vertreter von Minderheitskirchen ihre Erfahrungen austauschen können. Von großer Bedeutung sind auch die Vernetzung und die Kontakte die dadurch entstehen. Über diese Vollversammlung hat Gerhild Rudolf ausführlich in der LKI Nr. 22/23 vergangenen Jahres berichtet.
Da Die Evangelische Kirche in Italien (ELKI) der Gastgeber war, gehörte selbstverständlich zu den Programmpunkten auch das Kennenlernen der ELKI, eine Minderheit in der Diaspora.
Dem Protestantismus in Italien geht eine bewegte Geschichte voraus. Schon im Mittelalter gab es auf diesem Gebiet reformatorische Bewegungen. Im 12. Jahrhundert stellte der Lyoner Kaufmann Petrus Valdes die kirchlichen Strukturen der katholischen Kirche in Frage, indem er den Verkündigungsbefehl Christi und der Apostel als jedem Christen freistehenden Auftrag auffasste. Valdes wurde exkommuniziert, aber seine Anhänger sollten sich trotz Inquisition und Verfolgung bis in die Gegenwart behaupten. In den Alpen Norditaliens fanden sie ein Rückzugsgebiet und überdauerten die Zeiten. In der Reformationszeit konnten die Lehren Luthers in manchen Gebieten Fuß fassen. In Venedig durften sich deutsche evangelische Leute regelmäßig zu Gottesdiensten versammeln. Luther selbst war davon sehr überrascht. Er schreibt den Evangelischen in Venedig 1528 hocherfreut, dass er nie damit gerechnet habe, dass sich das „Evangelium sogar im Lande des Antichrist“ so schnell ausbreiten werde. Ein Beweis für die Weltoffenheit der Stadt.
Später, im 19. Jahrhundert, konnten evangelische Gottesdienste unter dem Schutz von preußischen Gesandtschaften oder der ausländischen Konsulate abgehalten werden. Es entstanden erste selbständige Gemeinden. Diese schlossen sich größeren Kirchen an, wie der preußischen Kirche der Union oder der evangelischen Kirche in Österreich. Mit der Aufklärung kam aber schön langsam die Religionsfreiheit. Endlich war es soweit. Mit dem Jahr 1870 wurde Rom Hauptstadt des Königreichs Italien: nun konnte die Gemeinde aus ihrem Schutz heraustreten in die Öffentlichkeit. Es wurde für den Bau einer neuen Kirche gesammelt. Diese Kirche konnte nach Kriegswirren des Ersten Weltkriegs erst 1922 fertig gestellt und eingeweiht werden. Nach den Weltkriegen schlossen sich im Jahr 1949 deutschsprachigen evangelischen Gemeinden in Italien zur „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien“ (ELKI) zusammen. Der lange Weg zur rechtlichen Selbständigkeit führte erst 1993 zum Ziel, als der Staat sein Versprechen gab, auch andere Religionsgemeinschaften außer der katholischen Kirche zu unterstützen und als gleichrangig anzusehen. Ab diesem Zeitpunkt dufte die ELKI auch mit finanzieller Unterstützung rechnen.
Heute zählt die evangelisch-lutherische Kirche in Italien ca. 7000 Seelen. Die wichtigsten Gemeinden sind in Rom, Mailand, Turin, Venedig, Triest und Sizilien. Den Vorsitz der ELKI hat der Dekan inne und dessen Sitz ist in Rom. Da nun die ELKI doch eine sehr kleine Kirche ist, wurde mit den anderen protestantischen Kirchen der „Bund evangelischer Kirchen in Italien“ (FCEI) gegründet. Diesem Bund gehören u.a. die Waldensische Kirche, die Baptistische, die Methodistische, die Apostolische Kirche in Italien und verschiedene Evangelikale Gemeinschaften an. Insgesamt bringt dieser Bund es auf 65.000 Mitglieder.
Ein ökumenischer Höhepunkt im Leben der evangelischen Gemeinde in Rom, die rund 300 eingeschriebene Mitglieder zählt, war der Besuch des Papstes Benedikt XVI: am Sonntag Lätare (14. März 2010). Damals hat Papst Benedikt gemeinsam mit der Gemeinde in der Christuskirche einen Abendgottesdienst gefeiert. Dadurch hat Papst Benedikt ein Zeichen der Verbundenheit gesetzt. Für die italienischen Medien war dieses historische Ereignis wohl nicht von Belang. In den Abendnachrichten kam bloß eine Notiz über diesen Besuch, ohne dass weitere Hintergrundinformationen geliefert wurden.
Von diesem Problem der Anerkennung in der italienischen Gesellschaft erzählten uns auch zwei Vertreter des FCEI. Viele Menschen in Italien wissen überhaupt nicht, dass es in ihrer Mitte auch eine protestantische Kirche gibt. Für sie heißt Christentum automatisch Katholisch. Wir erkennen also, die Öffentlichkeitsarbeit der ELKI ist vor große Herausforderungen gestellt. Es bedarf noch an vieler Aufklärungsarbeit, bis eine volle Anerkennung erfolgen kann.
Ein weiteres wichtiges Anliegen der ELKI ist die Fortbildung von theologischen Kräften. Gemeinsam mit der Waldenser Fakultät für Theologie wurde ein ökumenisches Studienzentrum mit dem Namen „Melanchthon“ im Jahr 2002 gegründet. Das Studienzentrum bietet allen Kirchen eine ökumenische Ausbildung in Rom an. Mit dieser Absicht fördert das Zentrum ökumenische Initiativen. Auch Studenten aus Mittel- und Osteuropa genießen hier immer wieder eine freundliche Aufnahme.
Wir halten fest: Mitten in der Hochburg des Katholizismus, unter den Augen des Papstes und des Vatikans, gibt es eine kleine Schar von Christen, die die Standarte Luthers hochhält und die Werte des evangelischen Glaubens als Minderheit in der Diaspora in einer ökumenischen Art und Weise pflegt und weitergibt. Ich denke, wir haben die Antwort auf die Frage der Überschrift gefunden.
Das ehemalige Oratorium “Zum Heiligen Schutzengel” (Scuola dell`Angelo Custode) aus dem 18. Jahrhundert – in der Nähe der Rialtobrücke im Stadtteil Cannareggio – dient ihr heute als Kirche.